„Ein Goldfischglas auf dem Poller – Schirmständer, Topfpflanzen oder ein Sofa am Straßenrand?“
Vorab, das reich bebilderte Buch ist kein Kunstband im klassischen Sinne und dies versucht es auch gar nicht erst zu sein. Es handelt sich um eine Studienarbeit aus dem Forschungsprojekt „taking to the streets“ unter der Leitung von Jürgen Krusch und der Mitarbeit von WM Frank Rost am Lehrstuhl Prof. Günter Vogt vom Netzwerk Stadt und Landschaft der ETH Zürich, Departement Architektur.
Inhaltlich setzt sich das Buch mit der Frage nach dem Straßenraum als einem der letzten öffentlichen Räumen der Stadt aus der Sicht der Architekten, Stadt- und Landschaftsplaner auseinander. Die große Anzahl an Beispielbilder und Dreier fotografischer Serien sollen das Erleben des Straßenraumes aus der Fußgängerperspektive verdeutlichen, aufzeigen und dienen zugleich dem Inhalt als Argument. Die Autoren schreiben dazu: „Die Methoden kombinieren künstlerische Ansätze mit neuen Bildstrategien, wie sie aus dem Bereich der künstlerischen Anthropologie bekannt sind“. Meiner Meinung nach ist das auch der größte Schwachpunkt des vorliegenden Buches, da es diesem Anspruch eigentlich nicht gerecht wird. Gerade die oben angeführten „neue Bildstrategien“ sucht man einigermaßen vergebens, was zur Folge hat, dass die Arbeit in einem relativ biederem und doch uninspirierten grafischen Layout daher kommt, auch die diagrammatischen Ergänzungen zum Textverständnis können diesen Mangel nicht gänzlich beseitigen.
Aber wo das beigefügte Bildwerk nicht überzeugen kann ist der textuelle Teil umso stärker. Wer sich mit der neueren Geschichte des europäischen Städtebaues der 50er bis 70er in Folge von CIAM sowie der Charta von Athen auseinandersetzt, deren Folgen und Reaktionen für die europäischen Städte kennt, wird in diesem Buch hilfreiche Ergänzungen zum Verständnis der im gegenwärtigen Diskurs geforderten Restrukturierung und Funktionsmischung der Städte finden. Gleichzeitig wird versucht analog dem asiatischen Model den städtebaulichen und soziologischen Fokus wieder auf den Straßenraum zu lenken, da dieser weitaus mehr leisten kann als nur reiner Funktionsraum für den Transport. Die urbanen Strassen, nicht wie in Europa üblich die Plätze, werden in Tokyo als Orte der Kommunikation und des Handelns, als gelebter Raum durch die Bewohner in Besitz genommen. Das Buch betrachtet dazu ausführlich in historischen und städtebaulichen Analysen die Qualitäten und weiteren Funktionstypen der öffentlichen Räume in Tokyo. Diese Funktionsräume wiederum werden in den Kontext der vorgefundenen urbanen Großstrukturen, zB. Bahnhöfe als Verkehrsknotenpunkte eines polyzentrischen Stadtgefüges, bis hin zu kleinstädtischen Mikrostrukturen, zB. die Übergangsbereiche im Wohnhaus zwischen den privaten und öffentlichen Räumen, im Inneren der Grossblöcke gesetzt.
Die detaillierte Auseinandersetzung mit dem temporär durch die Stadtbewohner umgedeuteten öffentlichen Raum als Form der fragmentierten Wohnnutzung ist jedoch besonders lesenswert. Hierbei handelt es sich um eine Art „Wohnen außer Haus“, dabei werden in zunehmenden Maße Einzelfunktionen des Wohnens wie zB. Kochen und Essen fragmentarisch über die Stadt verteilen, dadurch transformieren sich Bewohner in einen Archetypus des modernen Stadtnomaden. Die Autoren sehen aber genau in diesen, „dividual spaces“ die Möglichkeit in den postindustriellen Dienstleistungsmetropolen neue und zeitgemäße urbane Lebensstile zu manifestieren, schon jetzt sind diese Prozesse in der Umnutzung von Gewerbehöfen, Lofts und Industriequartieren in ganz Europa nachvollziehbar.
In Ergänzung zum Klassiker „Das japanische Haus und sein Leben“ von Bruno Taut ist das vorliegende Buch ein (Bild-)Handbuch zum weiteren Verständnis des öffentlichen sowie privaten Raum in Japan, bzw Tokyo und bietet zugleich Ideen und Lösungsansätze zu den Problemen des modernen Städtebaus und den Anforderungen einer kreativen und durch Vielfalt geprägten modernen städtischen Dienstleistungsgesellschaft.
Jürgen Krusche, Frank Roost
TOKYO. DIE STRASSE ALS GELEBTER RAUM
Lars Müller Verlag, 2010
Herausgegeben vom Lehrstuhl Günther Vogt, Departement Architektur, ETH Zürich
16,5 x 24 cm, 128 Seiten, 120 Abbildungen, Softcover
ISBN 978-3-03778-212-5, EUR 19.90